Freitag, 4. November 2016

Subversiv am Bahnsteig


So wie dem Menschen oft die Gründe für eigene Engstirnigkeit verschlossen bleiben, so bleiben auch vielerlei Dinge hinter verschlossenen Türen unerreichbar und dies nicht nur auf bildlich gesprochener Ebene. Auch die Tür des den Bahnhof verlassenden Zuges sollte sich nicht mehr öffnen, so dass dieser zwangsläufig einen kleinen wütenden Mann mit dem Namen Gustav Kleerose verärgert am Bahnsteig zurückließ. Der Umstand, dass dieser nun ganze 40 Minuten auf den nächsten Zug warten musste, ließen jene Wut im Zusammenspiel mit dem bedrückenden Gefühl, allein gelassen worden zu sein, allmählich zu einer Art rachsüchtigen Hass aufköcheln. Hass, weil Gustaf in jenem Moment der Person die dafür verantwortlich war, dass die lokalen Züge in Deutschland 45 anstatt 46 Sekunden halten kurzer Hand vor das vor ihm liegende Bahngleis geschubst hätte. Da jedoch der tödliche Zug, welcher ihm seine metaphorische Genugtuung geben sollte, grade erst abgefahren war und 40 Minuten mit Sicherheit genug Zeit wären, um das Bahngleis unbeschadet zu verlassen, ließen ihn sich wünschen, dass wenigstens der Fall aus einem Meter Bahnsteighöhe irreparablen Schäden mit sich ziehen würden.

Da stand er nun resigniert, mit knirschenden Zähnen, grauem Wintermantel und altmodischen Hut am tristen am verlassenen Bahnhof. Wie ein trauriger Pinguin der einsam und verlassen auf seiner Eischolle daher treibt ließ auch er seine Gedanken auf das Meer der großen Fragen treiben. Zwar schmälerte die eindringliche Stille Gustavs Hass nicht, änderte aber deren Form und Zweck. Er begann darüber zu philosophieren, ob jenes gedankliche Mordspiel dazu führen könnte, dass Menschen die in einer ähnlichen Situation wie der seinen steckten, zum Nachdenken angeregt werden und es tatsächlich in Erwägung ziehen würden, die Verlängerung von 45 Sekunden Haltezeit auf 46 Sekunden einzufordern. Manchmal kann die Verarbeitung vom zugefügten Leid das Selbstverständnis eines Menschen nachhaltig prägen und eine komplett neue Weltanschauung eröffnen. Gustav, welcher sich nun in einer solchen Weltanschauung zu verlieren begann, hasste nun nicht mehr destruktiv, sondern enthusiastisch und mit konkretem Plan. Das fraglie Triebwerk der modernen Aufklärung wurde an jenem winterlichen Abend um ein weiteres gläzendes Zahnrad bereichert und spätestens als er seinen Laptop aufschlug im Internet las, dass er nicht der einzige war, der schon mal seinen Zug verpasst hatte, gab ihm dies die nötige Motivation um in kritischen Essays und Leserbriefen seinen Missmut zum Ausdruck und den Menschen einen alles verändernden Wandel zu bringen, so dass Voltaire und Kant sich vor Freude im Grab umgedreht hätten.

 Gustav wollte zu schreiben beginnen, da er derzeit jedoch weder einen Stift noch ein anderes Schreibuntesiel mit sich trug, warf er aus Angst einen wertvollen Gedanken verlieren zu können, seine Brille mit ganzer Wucht zu Boden, nahm eine Scherbe, schnitt sich den Arm auf und hielt seine Gedanken in blutiger Schrift auf dem Fahrplan fest. Er weigerte sich, dass seine Ideen und Ideale nicht mehr als 40 Minute sinnlosen Wut sein sollten und glaube fest daran, dass ein schriftliches Manifest dem ganzen eine tiefere Bedeutung zuschreiben werde. In einer Situation wie dieser all das überschwängliche Temperament ungenutzt zu lassen und die Welt und um seine selbstgefälligen Meinung im unwissenden halten, wäre mehr als töricht um zum Wohle der Gesellschaft äußert verantwortungslos gewesen. Jeder der sich fortan über die Fahrzeiten informieren wollte, sollte nun über jene Missstände informiert werden, den Gustav selbst jüngst zum Opfer gefallen war. In seiner blutverschmierten Hetzschrift, welche auf Grund der nun eingeschränkten Sehfähigkeit nicht allzu leserlich ausfiel, rief er zur Boykottierung der deutschen Bahn auf und forderte Hinrichtung von all jenen die solche Missstände weiterhin billigen würden. In seinen Geistes und Blutergüssen vertieft und langsam dahin sterbend, bemerkte er nicht wie der Zug in den Bahnhof auffuhr, hielt, seine Türen öffnete und nach exakt 45 Sekunden den Bahnhof ohne ihn wieder verließ.
 

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