So wie dem Menschen oft die Gründe für eigene Engstirnigkeit verschlossen
bleiben, so bleiben auch vielerlei Dinge hinter verschlossenen Türen
unerreichbar und dies nicht nur auf bildlich gesprochener Ebene. Auch die Tür
des den Bahnhof verlassenden Zuges sollte sich nicht mehr öffnen, so dass
dieser zwangsläufig einen kleinen wütenden Mann mit dem Namen Gustav Kleerose
verärgert am Bahnsteig zurückließ. Der Umstand, dass dieser nun ganze 40
Minuten auf den nächsten Zug warten musste, ließen jene Wut im Zusammenspiel
mit dem bedrückenden Gefühl, allein gelassen worden zu sein, allmählich zu
einer Art rachsüchtigen Hass aufköcheln. Hass, weil Gustaf in jenem Moment der
Person die dafür verantwortlich war, dass die lokalen Züge in Deutschland 45
anstatt 46 Sekunden halten kurzer Hand vor das vor ihm liegende Bahngleis
geschubst hätte. Da jedoch der tödliche Zug, welcher ihm seine metaphorische
Genugtuung geben sollte, grade erst abgefahren war und 40 Minuten mit
Sicherheit genug Zeit wären, um das Bahngleis unbeschadet zu verlassen, ließen
ihn sich wünschen, dass wenigstens der Fall aus einem Meter Bahnsteighöhe
irreparablen Schäden mit sich ziehen würden.
Da stand er nun resigniert, mit knirschenden Zähnen, grauem Wintermantel und
altmodischen Hut am tristen am verlassenen Bahnhof. Wie ein trauriger Pinguin
der einsam und verlassen auf seiner Eisscholle daher treibt ließ auch er seine
Gedanken auf das Meer der großen Fragen treiben. Zwar schmälerte die
eindringliche Stille Gustavs Hass nicht, änderte aber deren Form und Zweck. Er
begann darüber zu philosophieren, ob jenes gedankliche Mordspiel dazu führen
könnte, dass Menschen die in einer ähnlichen Situation wie der seinen steckten,
zum Nachdenken angeregt werden und es tatsächlich in Erwägung ziehen würden,
die Verlängerung von 45 Sekunden Haltezeit auf 46 Sekunden einzufordern.
Manchmal kann die Verarbeitung vom zugefügten Leid das Selbstverständnis eines Menschen
nachhaltig prägen und eine komplett neue Weltanschauung eröffnen. Gustav,
welcher sich nun in einer solchen Weltanschauung zu verlieren begann, hasste
nun nicht mehr destruktiv, sondern enthusiastisch und mit konkretem Plan. Das
fraglie Triebwerk der modernen Aufklärung wurde an jenem winterlichen Abend um
ein weiteres gläzendes Zahnrad bereichert und spätestens als er seinen Laptop
aufschlug im Internet las, dass er nicht der einzige war, der schon mal seinen
Zug verpasst hatte, gab ihm dies die nötige Motivation um in kritischen Essays
und Leserbriefen seinen Missmut zum Ausdruck und den Menschen einen alles
verändernden Wandel zu bringen, so dass Voltaire und Kant sich vor Freude im
Grab umgedreht hätten.
Gustav wollte zu schreiben beginnen, da er derzeit jedoch weder einen Stift
noch ein anderes Schreibuntesiel mit sich trug, warf er aus Angst einen
wertvollen Gedanken verlieren zu können, seine Brille mit ganzer Wucht zu
Boden, nahm eine Scherbe, schnitt sich den Arm auf und hielt seine Gedanken in
blutiger Schrift auf dem Fahrplan fest. Er weigerte sich, dass seine Ideen und
Ideale nicht mehr als 40 Minute sinnlosen Wut sein sollten und glaube fest
daran, dass ein schriftliches Manifest dem ganzen eine tiefere Bedeutung
zuschreiben werde. In einer Situation wie dieser all das überschwängliche
Temperament ungenutzt zu lassen und die Welt und um seine selbstgefälligen
Meinung im unwissenden halten, wäre mehr als töricht um zum Wohle der
Gesellschaft äußert verantwortungslos gewesen. Jeder der sich fortan über die
Fahrzeiten informieren wollte, sollte nun über jene Missstände informiert
werden, den Gustav selbst jüngst zum Opfer gefallen war. In seiner
blutverschmierten Hetzschrift, welche auf Grund der nun eingeschränkten
Sehfähigkeit nicht allzu leserlich ausfiel, rief er zur Boykottierung der
deutschen Bahn auf und forderte Hinrichtung von all jenen die solche Missstände
weiterhin billigen würden. In seinen Geistes und Blutergüssen vertieft und
langsam dahin sterbend, bemerkte er nicht wie der Zug in den Bahnhof auffuhr,
hielt, seine Türen öffnete und nach exakt 45 Sekunden den Bahnhof ohne ihn
wieder verließ.