Donnerstag, 28. Mai 2015

Bürden der Nacht

Händehaltend zogen Helen und ihre Tochter ziellos dem dunklen Schwarz der kalten Nacht entgegen. Düsterer Herbstnebel umgab die gespenstischen Straßen Londons, so dass der einst so warme Schein der Laternen nun in einem tiefen Grau ganz und gar verschlungen wurde. Von all dem Leben, das in den heiteren Mittagstunden die Stadt umgab war nun nicht ein einziger Hauch zu spüren und jedes Zeichen der Freude hätte in jener nächtlichen Totenstille all seine Wirkung verloren. Als Ausgestoßene der Gesellschaft war dies die Welt in der Helen und ihr Tochter gezwungen waren zu leben. Tagsüber schliefen sie in den Tiefen der Abwasserkanäle, da sie in der Gesellschaft von Menschen nicht mehr als einen Strick dem Hals gefunden hätten. Seit jeher wart ihr Geschlecht verhasst und unerwünscht gewesen, sodass Helen sich seit dem Tod ihres Mannes daran gewöhnen musste, allein gestellt alles in Kauf zu nehmen, damit sie und ihre Tochter auf der Straße überleben konnten. Die von Pestleichen verseuchten Gewässer und die von infizierten Ratten zerfressenen Müllhalden erschwerten dies jedoch umso mehr und Helens trockene Kehle erinnerte sie daran, dass sie und ihre Tochter schon seit Tagen weder getrunken noch gegessen hatten.

Sie wusste, dass sie auch diese Nacht wieder gezwungen war hier am Straßenstrich mit ihrer Tochter auf die nächste Kutsche zu warten. Wie schon so oft suchte sie in ihrem Kopf verzweifelt nach einer Alternative doch mit dem Klang der heran trabenden Pferde war ihr bewusst, dass sie auch diese Nacht ihrem Kreuz nicht entkommen würde. Die Kutsche hielt neben den Beiden und aus ihr schaute ein fülliger Mann mit vergoldetem Jackett und einem Grinsen so breit wie sein Doppelkinn. Sie hatte schon öfter gehört, wie einige der reicheren Herren nach ihrem Aufenthalt im londoner Millionärsklub, sich obdachlose Frauen für vergnügliche Abendstunden als Dirne genommen hätten. Mit der Gewissheit ansonsten zu verdursten blieb Helen keine andere Wahl und so stiegen die Beiden in die prunkvolle Kutsche. Auch wenn es ihr widerstrebte, sollte ihre Tochter zusehen, denn schließlich würde auch ihre Zukunft kein anderes Schicksal für sie bereit halten. Helens Augen färbten sich in ein dämonisches Schwarz und mit einem ohrenbetäubenden Fauchen fuhr sie ihre messerscharfen Reißzähne in den speckigen Hals des Mannes, wissend, dass ihr Durst für diese Nacht gestillt sein würde.

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